Mutter und Kind

Neuere Forschungen haben interessante Einblicke in die lebenslange Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung gegeben.[1] Noch für Sigmund Freud hat das Kleinkind an der Mutter nur zur Befriedigung seiner libidinösen Triebe und Bedürfnisse Interesse; ihr erlebter Verlust sei die Ursache für alle späteren Ängste. Dagegen konnte René Spitz zeigen, daß der Entzug mütterlicher Zuwendung auch dann zu schweren Störungen im Verhalten des Säuglings führt, wenn ansonsten die Befriedigung all seiner körperlichen Bedürfnisse sichergestellt ist. Nicht die Stillung materieller Not, sondern die emotionale Zuwendung und das vorsprachliche „Kontaktbehagen“ sei für die psychische Entwicklung des Säuglings entscheidend.

 

Besonders wichtig sind die Forschungsergebnisse des englischen Psychoanalytikers Donald W. Winnicott, der die Entwicklung des Kleinkinds nicht isoliert, sondern mit seiner Mutter zusammen analysiert hat. Unmittelbar nach der Geburt lebten Mutter und Kind in einem Zustand symbiotischen Einsseins, sei doch der Säugling in seiner „vollständigen Hilflosigkeit“ ganz von der Pflege der Mutter abhängig und auf die „Gewährung leiblichen Kontaktbehagens“ angewiesen. Nach einigen Wochen kehrt die Mutter dann Stück für Stück in ihren früheren Alltag zurück und läßt das Kind für zunehmende Zeiträume allein. Das Kind ist umgekehrt nach etwa 6 Monaten in der Lage, „akustische und optische Signale als Hinweise auf zukünftige Bedürfnisbefriedigung zu verstehen“ und lernt, die „kurzfristige Abwesenheit der Mutter allmählich zu ertragen“. Seine differenziertere Wahrnehmung erlaubt es nun, die Mutter als ein „Wesen mit eigenem Recht“ zu erkennen und seine ursprünglichen narzistischen Allmachtsphantasien hinter sich zu lassen. In dieser Phase kommt es auch zu „aggressiven Akten“ (Schäge, Bisse, Stöße) des Säuglings gegen die Mutter, in der das Kind sich der neuen Objektrealität seiner Bezugsperson vergewissert. Mit solchen wechselnden Zärtlichkeiten und Aggressionen werden nun auch Gegenstände und „Übergangsobjekte“ traktiert, mit denen das Kind sich in dieser Phase intensiv beschäftigt (Kissen, Spielzeug, Puppe, Tier, Daumen u.ä.) und die „Ersatzbildungen für die verlorengegangene Mutter“ darstellen. Sie vermitteln zwischen „dem primären Erlebnis des Verschmolzenseins und der Erfahrung des Getrenntseins“ von der Mutter. Das Kind sei „zu einem selbstverlorenen Umgang mit dem erwählten Gegenstand nur in der Lage, wenn es auch nach der Trennung von der symbiotisch erlebten Mutter der Kontinuität ihrer Zuwendung so viel Vertrauen entgegenbringen kann, daß es im Schutz seiner gefühlten Intersubjektivität sorglos mit sich allein zu sein vermag.“ Winnicott führt die Fähigkeit des Kleinkindes, mit sich selbst in dem Sinne allein sein zu können, daß es entspannt „sein eigenes personales Leben“ und die es umgebende Dingwelt zu entdecken beginnt, auf die Erfahrung der „fortwährenden Existenz einer zuverlässigen Mutter“ zurück. Das Kleinkind gelange dadurch, daß es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu dem von Erik Erikson beschriebenen „Selbstvertrauen“, das es zum Leben braucht und von dem es im ganzen Leben zehrt.

 

In der geglückten Beziehung zur Mutter werde das Interaktionsmuster geprägt, das es dem Erwachsenen später erlaube, Freundschaften und Liebesbeziehungen aufzubauen. Alle Liebesbeziehungen würden „von der unbewußten Erinnerung an jenes ursprüngliche Verschmelzungserlebnis“ der ersten Lebensmonate angetrieben. Zeitlebens halte es hinter dem Rücken der Subjekte den Wunsch wach, mit einer anderen Person einszuwerden. „Zum Gefühl der Liebe wird er allerdings erst, wenn er durch das unvermeidliche Trennungserlebnis soweit enttäuscht worden ist, daß in ihn von nun an die Anerkennung des anderen als eine unabhängige Person konstitutiv miteinbezogen ist; nur die zerbrochene Symbiose läßt zwischen zwei Menschen jene produktive Balance zwischen Abgrenzung und Entgrenzung entstehen, die zur Struktur einer durch wechselseitige Desillusionierung gereiften Liebesbeziehungen gehört.“ Ob nun in Freundschaft, Familie oder Ehe, immer ist die Liebe ein „Seinselbstsein in einem Fremden“ (Hegel) und ein „reziprokes Beisichselbstsein im Andern“ (Honneth). Erst „jene symbiotisch gespeiste Bindung, die durch wechselseitig gewollte Abgrenzung entsteht, schafft das Maß an individuellem Selbstvertrauen, das für die autonome Teilnahme am öffentlichen Leben die unverzichtbare Basis ist.“

 

Pfr. W. Krause 



[1]    A.Honneth, Kampf um Anerkennung, 1994, stw1129, S.154ff.